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Jun, 2022

Zeitzeugenbesuch

Wie ist es, ein Stück Geschichte zu sein? Zu Besuch bei einer Überlebenden

„Als der Offizier, der über uns entscheiden sollte, von meiner Mutter hörte, dass sie Arierin sei und wir Mädchen Halbjüdinnen und als dann noch eine weitere Mutter mit drei Kindern kam, einem älteren Sohn in Uniform der Hitlerjugend mit allem Drum und Dran, einer kleinen Tochter mit Judenstern auf dem Mantel und einem Baby ohne alles und auch diese Frau erklärte, sie sei Arierin und wegen der Kinder da, wurde es dem Offizier zu viel. Der ließ sieben Passierscheine ausstellen und schrie: „Aus meiner Sicht mit der gesamten Bagage!“ So sind wir der Deportation entgangen.

Über 60 Jahre lang hat Ruth Winkelmann über das, was sie als Kind während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland erleben musste, geschwiegen. Über die Ausgrenzung, Erniedrigung, Verfolgung,  die demütigende Zwangsscheidung ihrer Eltern, die Deportation und Ermordung ihres jüdischen Vaters und den Tod ihrer Schwester. Erst seit 20 Jahren spricht die 93-Jährige über ihre Erlebnisse und engagiert sich als Zeitzeugin durch Lesungen und Interviews gegen das Vergessen. Am Donnerstag, den 19.5.2022 empfing sie das Wahlpflichtfach „Lebendige Geschichte in Berlin“ der Heinrich von Stephan-Gemeinschaftsschule in ihrem Haus am Stadtrand und erzählte den fünf anwesenden Schülern ihre Geschichte. Die hörten über drei Stunden lang zu und erfuhren Dinge, die in keinem Geschichtsbuch vorkommen wie die menschenverachtenden Unterscheidungen der Nationalsozialisten zwischen Juden (Menschen, die zwei jüdische Eltern haben), Halbjuden (Menschen mit jüdischem und nichtjüdischem Elternteil) und Geltungsjuden ( Menschen, die an einem bestimmten Stichtag in der jüdischen Gemeinde namentlich registriert worden waren)  und was diese  Unterscheidungen für verheerende Auswirkungen über Leben und Tod hatten. Die Schüler erzählten Ruth Winkelmann etwas über ihre eigenen familiären Hintergründe und stellten ihr Fragen wie: „Wie ist es, ein Stück Geschichte zu sein?“. Oder: „Was halten Sie von der heutigen Politik?“ Dabei bekamen sie so manche Antwort, die sie erstaunte. Ruth Winkelmann vertrat unter anderem die Ansicht, dass es ein gutes Zeichen sei, eine Partei mit rechten Ansichten und Absichten im Bundestag sitzen zu haben: „Dass die öffentlich ihre Meinung äußern können, zeigt doch, dass wir nicht in einer Diktatur leben. Diktaturen dulden keine anderen Meinungen. Demokratien halten sie aus.“

Text: Eva-Lena Lörzer

Bilder: Laura Kroschewski